Waldgeflüster 1/16

Denk ich an Waldkindergarten, bekomme ich erstmal kalte Füße und eine Gänsehaut. Dicht gefolgt von: Die armen Kinder, immer dreckig, immer kalt und ganz ohne Spielzeug. Aber ich bin neugierig. Also begleite ich Tim (6) und seine kleine Schwester Marie (3) heute einen Tag in den Heikendorfer Wald- und Naturkindergarten.

Als ich früh am Morgen vor der Haustür der Beiden stehe, zieht Mama Carolin die Geschwister an: Kind für Kind – Schicht für Schicht. Thermo-Unterwäsche, Wollsocken, Schneeanzug, ich schwitze schon beim Zugucken. Gleichzeitig bekomme ich kalte Füße, als ich an mir runterschaue: die guten Sneaker, die leichte Windjacke, keine Mütze.

Während Caroline noch das Frühstück in den Rucksäcken verstaut, sprudeln die Kinder von den Erlebnissen des gestrigen Tages. „Weißt Du was wir gestern im Wald gebaut haben?“, fragt mich Tim mit leuchtenden Augen. Ich hab´ kaum Luft geholt, da kommt auch schon seine Antwort: „Ein Labor! Da machen wir Experimente.“ Und die kleine Marie pflichtet bei: „Ja, die Großen haben den ganze Tag dran gebaut. Sogar ein Petruskop war da drin! Ich muss schmunzeln.

Als wir wenig später am Kindergarten ankommen, wuseln bereits viele andere, warm und bunt gekleidete Zwerge umher. Schnell schmatzen hier und da noch ein paar Küsschen. Dann werden die Mamas und Papas auch schon wieder vom Hof geschickt. Jetzt übernimmt das Waldteam.

Die Abläufe im Waldkindergarten sind klar strukturiert. „Jeder Tag beginnt bei uns mit dem Morgenkreis“, erklärt mir Pädagogin Lisa. „Hier singen, tanzen, rechnen und spielen wir zusammen. Gemeinsam mit den Kindern entscheiden wir auch jeden Tag, wo die Reise hingehen soll.“ Heute gewinnt mit großer Mehrheit der Kletterplatz.

Als wir aufbrechen, helfen die Großen den kleineren Waldkindern wie selbstverständlich beim Packen und Aufsetzen der Rucksäcke. „Bei uns hat jeder einen Paten. Einen der buchstäblich unter die Arme greift und den Kleinsten hilft, den Alltag hier draußen zu meistern“, ergänzt ihre Kollegin Sigrid.

Mich überraschen die Ruhe und Aufmerksamkeit, mit der die Kinder losmarschieren. Die kleine Straße wird achtsam überquert und auch im Wald verharren die Kinder unaufgefordert an den Haltepunkten, unsichtbaren Linien, an denen sich alle immer wieder sammeln.

Als wir den Kletterplatz erreichen, schwärmen die Kinder sofort in alle Himmelsrichtungen aus. Die ersten plündern die Werkzeugkiste und beginnen akribisch ein großes Stück Holz mit einer Feile zu bearbeiten. Andere meinen Wildspuren entdeckt zu haben und nehmen die Fährte auf. Tim und sein Kumpel Julius verschwinden zielstrebig in ihrem neuen Labor und planen den Dachausbau.

„Was ist denn jetzt los?“, frage ich Lisa verblüfft. „Bis zum Frühstück ist freies Spiel angesagt. Das ist das Besondere am Wald. Hier haben wir den Platz und den Raum, dass jeder sich das suchen kann, was ihn gerade begeistert. Wer möchte, kann sich einer Gruppe anschließen oder aber einfach mal für sich sein. Wir geben die Impulse und begleiten wenn Bedarf besteht, aber die Kreativität entfalten die Kinder von ganz alleine.“

Plötzlich werden wir unterbrochen. Marie und zwei größere Mädchen kommen stürmisch auf uns zu gerannt. „Das müsst ihr sehen, da waren Wichtel am Werk!“ rufen sie keuchend und zerren uns zu einer alten Buche, die an einer Seite hohl ist.

Sigrid lächelt: „Wir versuchen, den Blick der Kinder für die kleinen Dinge zu schärfen. Das ist der Zauber des Einfachen, das Magische der kleinen Dinge. Nicht umsonst wird der Wald der dritte Pädagoge genannt. Die Kinder werden hier unglaublich einfallsreich und entwickeln die tollsten Ideen, weil sie die Natur mit all ihren Sinnen erleben.“ So langsam glaube ich zu verstehen, was sie meint. Alle reden immer von Glück und Entschleunigung. Hier ist Beides zum Greifen nahe.

Als ich mich von den strahlenden Waldkindern verabschiede und langsam durch den Wald zurückstapfe, fällt mir zuerst eines auf: Mir war gar nicht kalt. Die roten Bäckchen und die leuchtenden Augen scheinen anzustecken. Ich denk´ an Tim und Marie, an Wichtel, fantastische Werkzeuge und geheimnisvolle Spuren. Doch als ich an mir runtergucke, denke ich irgendwie auch an meine nächste 60° C –Wäsche.